„22 Bahnen“-Kritik: Darf es ein bisschen von allem sein?
Auch in Deutschland werden zunehmend mehr und mehr Jugendbücher verfilmt. In „22 Bahnen“ bekommt das deutsche Publikum zum wiederholten Male Luna Wedler und Jannis Niewöhner serviert – aber funktioniert diese Kombination?

„22 Bahnen“ ist ein Roman der Autorin Caroline Wahl und hat zur Veröffentlichung 2023 große Wellen(!) geschlagen. Nun wird recht fix die Verfilmung hinterhergeschoben und hat große Ambitionen – doch wird der Film diesen Ambitionen gerecht oder ist vor dem Ende der 22 Bahnen bereits Feierabend?
- „22 Bahnen“: Worum geht es in dem neuen Film mit Luna Wedler und Jannis Niewöhner?
- „22 Bahnen“: Unter Wasser hört dich niemand schreien
- „22 Bahnen“: Wasser marsch! Vor allem aus den Tränendüsen
- „22 Bahnen“: Wenn das Freibad vor Saisonende geschlossen wird
- „22 Bahnen“: Schauspiel so gut wie Freibadpommes
- „22 Bahnen“: Wie der Tropfen Wasser, der im Ohr festhängt
„22 Bahnen“: Worum geht es in dem neuen Film mit Luna Wedler und Jannis Niewöhner?
Kurz gesagt: viel. Tilda (Luna Wedler) ist Masterstudentin in einem mathematischen Studiengang, arbeitet nebenbei an der Supermarktkasse, versucht ein geregeltes Privatleben zu führen – und kümmert sich des Häufigeren um ihre kleine Schwester Ida (Zoë Baier), da ihre Mutter (Laura Tonke) Alkoholikerin ist. Als wäre das alles nicht genug, wird Tilda eine Promotionsstelle in Berlin angeboten, was aber bedeuten würde, dass sie Ida mit ihrer unberechenbaren Mutter allein lassen müsste. Darüber hinaus taucht mit Viktor (Jannis Niewöhner) auch noch der ältere Bruder eines Jugendfreundes Tildas auf, den ein schlimmes Schicksal ereilt hat. Inmitten dieses gesamten Chaos gibt es für Tilda nur einen Rückzugsort – das örtliche Freibad …
„22 Bahnen“: Unter Wasser hört dich niemand schreien
Vorab sei angemerkt: Ich habe das zugrundeliegende Buch nie gelesen und habe keine Ahnung, ob bestimmte Aspekte der Geschichte besser oder schlechter umgesetzt wurden. Wovon ich aber Ahnung habe … „22 Bahnen“ sticht mit ganz schön vielen Themen ins Freibadbecken und versucht merklich unter dem Gewicht all dieser Themen nicht abzusaufen. Denn hier ist ganz schön viel los: Alkoholismus, Druck, Liebe(?), Verantwortungsgefühl, Selbstbestimmung, Schuld. Irgendwie ist es authentisch, dass in einer jungen Person wie Tilda so ein Chaos herrscht – sind wir restlichen Menschen meist auch mehr als eine Sache – aber bei so vielen Problemen kann man sich nur schlecht für Tilda fühlen. Ein wenig ist sie die deutsche Antwort auf Misery-Porn wie „Nomadland“ (2020). Wer den Kinosaal mit einer bedrückten Seele verlassen möchte, kommt hier auf seine oder ihre Kosten …
„22 Bahnen“: Wasser marsch! Vor allem aus den Tränendüsen
„22 Bahnen“ hat so viele Anliegen, dass der Film selbst kaum weiß, was jetzt priorisiert werden soll. Während Themen wie der Alkoholismus gut porträtiert werden, kommen andere Dinge viel zu kurz. Die Promotionsstelle in Berlin? Ein willkürliches Hindernis, das vollends austauschbar ist. Die Liebelei zwischen Tilda und Viktor? Leider ebenso belanglos … denn wer nach „Je suis Karl“ (2021) erneut hofft, dass Wedler und Niewöhner zusammen brillieren, bekommt zwar in etwa das, was er oder sie will, aber wer denkt, dass man die beiden Darsteller:innen kontinuierlich zusammen sehen würde, wird enttäuscht sein.

„22 Bahnen“: Wenn das Freibad vor Saisonende geschlossen wird
Es gibt kaum etwas Unschöneres als unvollendete Tatsachen: Wer das nicht weiß, wird die Lektion auf die harte Art und Weise nach „22 Bahnen“ lernen. All die großen Probleme, die aufgemacht werden, finden keine großen Lösungsansätze. Statt zu sehen, wo Tildas Reise hinführt, hört der Film einfach auf und lässt viele Dinge offen. Und das ist traurig, denn nach über 90 Minuten liegen mir Tilda und ihre kleine Schwester Ida am Herzen und ich möchte wissen, ob es beiden gut gehen wird – aber statt mir Antworten auf diese Fragen zu geben, werde ich bedeutungsschwanger zurückgelassen. Das ist mehr als frustrierend …
„22 Bahnen“: Schauspiel so gut wie Freibadpommes
Wie man gerade schon heraushören konnte, ist das Kurzkommen der Narrative unter anderem so frustrierend, weil die Schauspieler und Schauspielerinnen fast alle einen guten Job machen. Dass Luna Wedler Deutschlands vielversprechendstes Nachwuchstalent ist, muss man niemandem mehr erzählen – dennoch sei angemerkt, dass sie eine wirklich gute Chemie mit allen Cast-Mitglieder:innen hat.
Ida und Andrea, der Rest von Tildas Familienbande, fällt mit Zoë Baier und Laura Tonke auch mehr als positiv auf. Vor allem Baier, die mit ihren elf Jahren viele internationale Kinderdarsteller:innen an die Wand spielt, ist eine echte Entdeckung – im diesjährigen deutschen Oscar-Beitrag „In die Sonne schauen“ wird sie auch zu sehen sein. Und Laura Tonke ist als alkoholkranke Mutter so derartig frustrierend, dass man schnell vergisst, dass Mutter Andrea gar keine reale Person ist.

Jannis Niewöhner ist zwar auch nicht schlecht, aber ist unter diesem starken weiblichen Trio eher eine Randnotiz. Das kann damit zusammenhängen, dass seine Figur nicht viel Fleisch auf den Rippen hat und eher die Version eines Mannes ist, die man sich in der heutigen Gesellschaft wünschen würde. Er ist nie kompliziert oder komplex, denn dafür haben wir schon Tilda. Auf eine gewisse Art und Weise ist die „Mary Sue“-Variante eines Mannes aber auch mal erfrischend … und wenn es gut gespielt ist, kann man sich kaum beschweren.
„22 Bahnen“: Wie der Tropfen Wasser, der im Ohr festhängt
So viele Probleme „22 Bahnen“ haben mag, kann man dem Film kaum böse sein. Während der Sichtung wird man an ähnlich starke Genre-Vertreter wie „Es war einmal Indianerland“ (2017), „Tigermilch“ (2017) oder „Große Mädchen weinen nicht“ (2002) erinnert. Wer in der durch den September eingeleiteten Herbstsaison ein schwermütiges Chaos mit dem Herz am rechten Fleck sehen will, ist bei „22 Bahnen“ besser aufgehoben als bei dem aktuellen Streamingquatsch. Denn am Ende des Tages ist „22 Bahnen“ wirklich wie ein Freibadbesuch: Es gab unangenehme Erlebnisse wie die viel zu kalte Dusche und den Tropfen Wasser im Ohr, der einfach nicht raus möchte, aber, verdammt, waren die Pommes gut …