Eine kreative Bankrotterklärung

Polizeiruf 110 heute: Lohnt sich der neue Rostocker Fall „Böse geboren“?

Am heutigen Sonntag schickt die ARD wieder das Rostocker Ermittlungsteam König und Böwe ins Rennen. Was kann der Rostocker „Polizeiruf“ „Böse geboren“?

Man sieht die beiden Ermittlerinnen Böwe und König im Wald. Sie schauen sich eine aufgehangene und beschädigte Schaufensterpuppe an.
Ermittlerinnen Böwe (links) und König stolpern durch den Rostocker Wald – und durch einen langweiligen Kriminalfall. Foto: NDR/Michael Ihle | ARD

Gibt es etwas schöneres als deutsche Beständigkeit? Freitag kommt Fisch auf den Tisch, Samstag wird der Wochenendeinkauf gemacht und Sonntag geht es entweder zum „Tatort“ oder es wird die Polizei gerufen…die im Zweifelsfall auch früher oder später am Tatort aufschlägt. Diese Woche durften wieder das Rostocker-Duo König und Böwe ermitteln. Doch ist die Episode „Böse geboren“ fast so generisch wie ihr Titel oder lungert hinter dem Einfallsreichtum der Episodenbezeichnung ein moderner Klassiker der deutschen Krimi-TV Geschichte?

„Böse geboren“: Worum geht es im Rostocker „Polizeiruf“?

Fahren zwei Tierschützerinnen in den Wald. Was wie das Set-Up eines schlechten Witzes klingt, ist hier weitaus seriöser. Denn der einen Tierschützerin wird ein Schuss direkt durch den Kopf verpasst, während die andere nur gerade so den Anschlag durch einen Unbekannten überlebt. Nun liegt es an den Ermittlerinnen König (Anneke Kim Sarnau) und Böwe (Lina Beckmann) herauszufinden, wer hinter diesem Blutbad steckt. Doch nicht nur das: Gleichzeitig muss Ermittlerin Böwe ein vergangenes Trauma aufarbeiten, was sich zum Glück thematisch mit dem Kriminalfall spiegelt – Zufälle gibt’s. Schon gelangweilt? Ich auch.

„Polizeiruf“ in Rostock: Wo versagt „Böse geboren"?

Prinzipiell überall – aber immerhin ist dieser Ansatz konsequent. Es gab mal eine Sendung auf dem mittlerweile eingestellten Spartensender „EinsPlus“, namentlich „Walulis sieht fern“ (2011-2014). In der Sendung persiflierte Philipp Walulis TV-Programme von Privatsendern, aber auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – unter anderem auch den „Tatort“. Walulis und seine Redaktion stellten fest, dass ein „Tatort“ meist so abläuft, dass es am Anfang eine Leiche gibt, die die Ermittelnden zuerst auf eine falsche Fährte lockt, die dann meist dazu genutzt wird, irgendein großes moralisches Thema von derzeitiger kultureller Relevanz aufzunehmen. Dazwischen findet persönliches Drama bei einem der beiden Ermittler statt und schlussendlich wird der Täter gefasst. Diese Feststellung machte Walulis 2011 und die von ihm erkannte Formel lässt sich auch auf den „Polizeiruf“ anwenden. „Tatort“ und „Polizeiruf“ sind somit in etwa das „Fast Food“ der ARD-Krimiunterhaltung – man weiß, was man bekommt und solange sich niemand beschwert, kann man ja so weitermachen. Fast so grandios konzipiert wie „Böse geboren“…

„Böse geboren“: Inhaltliches Versagen

In „Böse geboren“ geht es vielleicht an der Oberfläche um zwei erschossene Tierschützerinnen, aber eigentlich wird hier so viel mehr thematisiert. Ist moralisches Fehlverhalten, zum Beispiel Mord, vielleicht genetisch vererbbar? Ja…und nein? Ich kann verstehen, dass man als Sender sein Publikum nicht verärgern will, aber diese ständige Unentschlossenheit bei moralischen Fragen aller Art ist ermüdend und anstrengend. In einer Szene ermitteln die Komissare, oder eher das bemühteste Comedy-Duo im Revier, Röder (Uwe Preuss) und Pöschel (Andreas Guenther) in einer WG und ein Flyer der Tierschützer spornt eine kleine Diskussion zwischen den ungleichen Kommissaren an. Röder ist der Meinung, dass ein Tierleben mindestens genauso wertvoll wie ein Menschenleben ist – konkret: „Im Grunde sind wir nur Säugetiere. Säugetiere mit Waffen.“ Doch das sieht Pöschel, der von Guenther so gespielt wird, als wäre er der strammste Alkoholiker im Revier, fundamental anders. Und statt dieses große Thema fundamental auszudiskutieren, entscheidet man sich, dass es einfacher ist, sich darauf zu einigen, dass beide Parteien irgendwie Recht und Unrecht haben…es wäre ja eine Schande beim Publikum mit narrativen Entscheidungen anzuecken. Und auf solche Entscheidungsunfähigkeit stößt man andauernd: Ist Tierschutz korrekt? Ja, aber nur, dann wenn man nicht zu radikal ist. Ist man böse geboren, weil der Vater ein Serienmörder war? Ja, aber nur solange das Drehbuch es braucht.

Darüber hinaus möge man doch denken können, dass man selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen über die Genre-Klischees hinweg ist, aber eine Subversion der Erwartungshaltung würde beim Zielpublikum wahrscheinlich zu einem Herzinfarkt vor zu viel Spannung führen. Im Jahr 2025 wird tatsächlich ein „Polizeiruf“ ausgestrahlt, in der eine der beiden Ermittlerinnen den „Good Cop“ (Böwe) und die andere den „Bad Cop“ (König) spielt. So etwas hat vielleicht das letzte Mal im Kino der späten 90er funktioniert, aber mittlerweile ist das fast so altbacken wie die klischeehaften Dialoge zwischen König und Böwe, Böwe und ihrer Tochter Rose oder jeder anderen Person, die in diesem Krimi eine Diskussion miteinander führt. Obwohl es für die antiquierte Schreibe eine klare Erklärung gibt.

„Böse geboren“: Technisches Versagen

Diese Episode des „Polizeiruf“ wurde vom 6. März 2023 bis zum 04. April 2023 gedreht. Das hat sicherlich Senderinterne Gründe, weshalb die Ausstrahlung einer Episode so lange dauert, aber das lässt jetzt auch nicht wirklich den Rahmen dafür aktuelle Themen mehr als nur oberflächlich anzukratzen. Aber nun hatte man knapp zwei Jahre Zeit diesen „Polizeiruf“ auszustrahlen und niemand hat sich dabei gedacht, dass es vielleicht nicht die beste Idee ist, einen kalten und teils verschneiten Kriminalfall im späten Mai auszustrahlen. Ja, Deutschland ist sehr wechselhaft vom Wetter her, aber das passt stimmungstechnisch nicht zum aktuellen Wettergeschehen.

Und auch vom Pacing, also der Abmischung der spannenden und weniger spannenden Momente, her, kommen alle Freunde der etwas krawalligen Unterhaltung auf ihre Kosten. Bis zum doppelten Showdown gegen Ende gibt es den Mordfall am Anfang und eine zehn Sekunden lange Verfolgungsjagd in den ersten zwanzig Minuten. Dazwischen wird ein wenig persönliches Drama bei Ermittlerin Böwe angekratzt, welches alle Zuschauenden aber bis zum nächsten Rostocker „Polizeiruf“ wieder längst vergessen haben werden. Gibt es inmitten dieser „formidablen“ Unterhaltung auch einige Lichtblicke?

„Polizeiruf“: Bringt „Böse geboren“ auch Stärken mit?

Am Anfang gibt es einen Kopfschuss und der sieht echt gut und realistisch aus. Darüber hinaus ist hier alles kompetent inszeniert. Es gibt zwar keine beeindruckenden Kameraspielereien, aber ob die ARD so viel Kreativität ohnehin redaktionell hätte verantworten können, ist unklar. Und eine Sache sollte man noch hervorheben: Das Ende ist konsequent und niederschlagend. Niemand hat am Ende des Tages etwas gewonnen und die Zuschauenden werden mit einem Gefühl der bedrückenden Leere zurückgelassen – und das ist tatsächlich unerwartet mutig. Das Publikum zum Wochenabschluss niedergeschlagen auf der Couch sitzen zu lassen, ist konsequent.

„Böse geboren“: Ein allumfassendes Fazit

Vielleicht ist die universelle „Tatort“-Formel, die Philipp Walulis erkannt hat, tatsächlich etwas festgefahren. Um ganz ehrlich zu sein: Die Formel ist mehr als ausgelutscht. Auf wenn man das von außen nicht beurteilen kann, fühlt es sich zu keiner Sekunde so an, als würde nur eine Unze Passion in „Böse geboren“ stecken. Vielleicht sollte man seitens der ARD einfach mal wieder etwas anderes ausprobieren. Statt Ermittlerin Böwe mit einem Cliffhanger zurückzulassen, der auf neues familiäres Drama im nächsten Polizeiruf schließen lässt, sollte man sich Schauspielerin Lina Beckmann schnappen und endlich mal den Cliffhanger aus „Der kleine Mann“ (2009) auflösen. Vielleicht sollte man statt Telenovelas und Kriminalfällen, die sich nur durch Ort und Ermittlerduo unterscheiden lassen, mal wieder ein paar Sitcoms oder fiktionale Serien produzieren, die nichts mit Mordfällen im Wald zutun haben. Und ich weiß, dass es solche Inhalte seitens ARD gibt, aber vielleicht sollte man diese Inhalte dann auch prominenter platzieren, statt sie in der Mediathek oder auf Spartensendern zu versenken. Ich bin ein großer Freund deutscher Unterhaltung, aber die könnte spätestens jetzt mal anfangen gewagter zu sein. Doch bevor wir an dem Punkt ankommen, gibt es erstmal ein Fazit: Wer schon immer einen Krimi sehen wollte, schaut mit „Böse geboren“ einen Krimi.