„Tatort“ heute: Lohnt sich der Züricher Fall „Rapunzel“?
Was für manchen wie eine Bestrafung ist, wird für andere ein Himmel auf Erden sein: Zwei neue „Tatorte“ in einer Woche. TVMovie.de klärt auf, ob der Fall „Rapunzel“ nun eine Bestrafung oder vielleicht doch der Himmel auf Erden ist …

Die letzten zwei „Tatort“-Fälle rankten sich von durchwachsen (Dortmund) bis vollends unbrauchbar (Wien). Beugt sich der Züricher Fall „Rapunzel“ dem allgemeinen Muster der mangelnden Qualität oder wird dem Publikum ein Fall serviert, der tatsächlich etwas taugt?
„Rapunzel“: Das passiert im neuen Tato
Ein Wunder: Der „Tatort“ eröffnet und es ist noch niemand tot. Doch das soll sich schnell ändern. Die junge Vanessa (Elena Flury) besucht ihre Freundin Lynn (Elsa Langnäse), während ihres Werkstudentinnenjobs in einem Club und verlässt das Establishment wieder schnell, nachdem sie herausgeworfen wird. Sie zieht allein durch die Nacht und wird nach wenigen Minuten von einer vermummten Gestalt entführt – die ihr versucht, die Haare abzuschneiden. Doch Vanessa kann fliehen und wird während ihrer Flucht schlussendlich von der vermummten Gestalt angefahren … und endet als Leiche auf einer Baumkrone.
Haargenau beobachtet: Das macht der „Tatort“ aus Zürich gut
Im neuesten „Tatort“ ist alles etwas überhöht, aber nicht auf eine komische Art und Weise. Die Überhöhung ist dem doch eher skurrilen, aber deswegen nicht minder unterhaltsamen Thema geschuldet. Alles ist hier voller Haare: Edelfriseure, Perrückenfertigerinnen und eine Firma, die Haare weiterverkauft. All diese Elemente passen zum Hauptthema des „Rapunzel“-Falls und weben sich gut in den Handlungsverlauf ein. Denn eine Sache ist hier sehr auffällig: Hier hat sich jemand, namentlich Drehbuchautor Adrian Illien, intensiv mit der absurden Welt des Handels mit Echthaar auseinandergesetzt. So sehr, dass man als Zuschauender tatsächlich etwas lernt. Wusstet ihr beispielsweise, dass Perücken für Anhänger und Anhängerinnen des jüdischen Glaubens koscher sein müssen? Ich auch nicht. Es fühlt sich streckenweise an, als hätte man versehentlich eine sehr brutale Ausgabe von „Die Sendung mit der Maus“ angemacht – und das ist sehr positiv. Normalerweise kennt man es, dass Themen oberflächlich angeschnitten werden – man erinnere sich nur an die eher moderate Aufarbeitung des Themas „Frauenhauses“ im letzten Dortmunder-Fall – deswegen ist es umso schöner, dabei zuzusehen, wie die Passion des Kreativteams für ein Thema, auf die Zusehenden übergeht. Und ob man es glaubt oder nicht … es gibt noch mehr Lob.
Bis in die Haarspitzen voller Ambitionen: Weitere Qualitäten des Falls „Rapunzel“
Das Opening, also circa alles, was in den ersten fünf bis zehn Minuten passiert, ist richtig gut. Die Bilder bilden stets einen inhaltlichen und optischen Kontrast, und die schiere Menge an Statisten im Club, sowie die Fontänen an Regen in dieser dunklen Züricher Nacht kreieren ein gutes Stimmungsbild (das dieser Fall leider danach nie wieder einfangen kann). Spätestens dann, wenn ein Auto die junge Vanessa auf eine Baumkrone schleudert und dabei unter ihr der Titel des Falls eingeblendet wird, weiß man, dass hier jemand tatsächlich Bilder kreieren wollte, die lange im Kopf bleiben werden. Außerdem bedient man sich im späteren Verlauf des Falls noch dem „Rapunzel“-Motiv – hier wusste auf jeden Fall irgendwer, was er oder sie tut.
Dann wäre da noch gute Chemie: Einerseits zwischen Linn und Vanessa, die ein lesbisches Pärchen sind und das ausnahmsweise authentisch und nicht so repräsentativ plump (hust, „Tatort“ aus Wien, hust), wie sonst vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gewohnt, aufspielen. Andererseits gibt es da noch Aaron Arens, der durch einen (zugegeben, etwas sehr schnell altwerdenen) Running-Gag mit einem Schnauzbart eine schöne Stimmung in das doch etwas blasse Team rund um Ermittlerinnen Grandjean (Anna Pieri Zuercher) und Ott (Carol Schuler) zaubert. Und wenn wir schon beim Wort „blass“ sind …
Haar, Haar, Haar? Das sind die Schwächen des Züricher „Tatorts“
Bleiben einem die Kollegen und Kolleginnen aus dem Wiener „Tatort“ im Kopf, weil sie zu krampfhaft ein Team mimen wollen, und vergisst man die Kollegen und Kolleginnen aus Dortmund nicht, weil Peter Faber sie alle auf seinen Schultern trägt, erinnert man sich an die Namen und Gesichter des Züricher Ermittlerinnengespanns leider nach wenigen Minuten nicht mehr – teilweise schon, während man noch zusieht. Nichts von dem, was Grandjean und Ott auf einer relevanten inhaltlichen Ebene tun, bleibt im Kopf. Lustigerweise bleibt jeder noch bemühte Witz zwischen den beiden im Gedächtnis (meinem auf jeden Fall) – bedauerlicherweise schaue ich aber einen Kriminalfall und nicht die „Züricher Zwinker-Witze Hitparade“. Jedes Mal, wenn der Kriminalfall Charaktere zeigt, die nicht unsere Protagonistinnen sind, fällt auf, dass der Kriminalfall eigentlich sehr interessant ist, aber vor diesem leidigen „Tatort“-Klischee bleibt auch Zürich nicht verschont.
Gerechtfertigt oder Haarspalterei? „Rapunzel“ geht schnell die Luft aus
„Wenn dein Film so anfängt, dann sollte der Rest dem auch gerecht werden.“ So in etwa lautet eine Redewendung, die sich sehr gut auf den neuesten Züricher „Tatort“ beziehen lässt. Der Anfang ist wirklich solide, aber danach geht dem Fall schnell die Luft aus. Nichts von dem, was man sieht, ist irgendwie langweilig anzusehen, aber es plätschert alles heiter vor sich hin und das ist etwas schade. Insbesondere, weil man so stark angefangen hat.
Dann gibt es noch eine seltsame Sache, die vielleicht nicht wirklich Kritik, sondern eher eine Auffälligkeit ist: In einer Szene gibt es sehr umfangreiche Exposition rund um die Droge „Ketamin“. In einer späteren Szene geht es dann um das Thema „Dick Pics“ und es erfolgt keine Exposition. Was man darüber denkt, muss jeder für sich selbst entscheiden.
An den Haaren herbeigezogen? Ein Fazit zum Züricher „Tatort“ „Rapunzel“
Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber nachdem ich die letzten Wochen eher gemeckert habe, ist „Rapunzel“ auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Der Kriminalfall ist zwar nichts Weltbewegendes, aber so viel Kreativität (gemessen an den Maßstäben des „Tatorts“) bekommt man selten zu Gesicht. Auch wenn gegen Ende die Luft endgültig raus ist, bekommt man eine Erfahrung, bei der man sich nicht schämen muss, sie am Montagmorgen auf der Arbeit zu erzählen. Wenn das die Richtung ist, in die zukünftige „Tatorte“ auch gehen sollten, dann kann ich nur sagen: „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.“