Kein „Tatort“ heute: ARD strahlt stattdessen einen schockierenden „Polizeiruf“ aus
Harter Tobak im „Polizeiruf“ diese Woche: Es wird ein fiktiver Amoklauf an einer Schule gezeigt. Ist dieser Ansatz authentisch oder eher geschmacklos?

Während der „Tatort“ letzte Woche kaum begeistern konnte, bekommt man diese Woche einen „Polizeiruf“ aus Magdeburg, der mit der schockierenden Darstellung eines Amoklaufs an einer Schule aufwartet. Wie schaut sich der sehr kondensierte Fall „Sie sind unter uns“ – und versucht man nur durch Effekthascherei zu schockieren?
- „Polizeiruf 110“: Was passiert in „Sie sind unter uns“
- „Polizeiruf 110“: Notwendige Ernsthaftigkeit ist vorhanden
- „Polizeiruf 110“: Große Ambitionen, hohes Niveau
- „Polizeiruf 110“: „Sie sind unter uns“ gelingt etwas, woran fast alle scheitern
- „Polizeiruf 110“: Wie Schuppen von den Augen
- „Polizeiruf 110“: Geschmacklos oder wichtig?
„Polizeiruf 110“: Was passiert in „Sie sind unter uns“
Jeremy (Mikke Rasch) hat mit allerlei Problemen zu kämpfen: Neben schlechten Leistungen in der Schule, muss er sich auch um seine an MS-erkrankte Mutter (Maja Beckmann) kümmern. Und in diesem überforderten Jungen schlummert ein perfider Plan: Mit einer Kamera und einer Schusswaffe ausgerüstet, zieht er in seine Schule und fängt Schüler und Schülerinnen, sowie das Kollegium zu erschießen. Seine Beweggründe? Unklar. Nun liegt es an den Hauptkommissaren Brasch (Claudia Michelsen) und Lemp (Felix Vortler) herauszufinden, wo Jeremys Motiv liegt und wie man ihn aufhalten kann. Ein Spiel gegen die Zeit beginnt …
„Polizeiruf 110“: Notwendige Ernsthaftigkeit ist vorhanden
Es ist schwer zu glauben, dass der B-Waren „Tatort“ namens „Polizeiruf“ es tatsächlich vermag, einen Fall ins Fernsehen zu hieven, der so viel besser als jeder „Tatort“ der letzten paar Monate ist – Wiederholungen ausgenommen. Denn die größte Stärke des dieswöchigen „Polizeiruf“ ist, dass er einen sehr kondensierten Fall erzählt. Es ist nichts Neues, dass in diesen Fällen der Täter und seine Tat meist größer sind als die Ermittelnden. Und im Falle der Darstellung eines fiktionalen Amoklaufs ist kein Platz für unnötige Charakterzeichnung des Ermittlerteams. Man verliert sich nicht, wie sonst, in hunderten verschiedensten Nebenplots, sondern hat eine rote, stringente Linie: Ein Junge läuft Amok und der Amoklauf muss gestoppt werden. Kein Platz für forcierten Humor, sinnloses Charakterdrama oder anderen Quatsch. Und diese Ernsthaftigkeit, mit der das Thema „Amoklauf“ angefasst wird, mündet in einer sehr kompetenten Inszenierung.
„Polizeiruf 110“: Große Ambitionen, hohes Niveau
Selbstverständlich ist dieser „Polizeiruf“ nicht immun gegen die üblichen Schuss-Gegenschuss-Einstellungen, aber dazwischen gibt es mehr als genug inszenatorische Lichtblicke. Es gibt Gegenschnitte, die die sonst dröge dargestellten Gespräche auflockern und Kamerafahrten, die sich während der Dialoge im Kreis, um die Darsteller und Darstellerinnen drehen – und das während sich die Figuren inhaltlich im Kreis drehen. Dazu kommt gute Tonarbeit gleich zum Anfang, die den Stress, während einer Klausur, sehr gut darstellt. Ebenso wenn Jeremy im Auto sitzt und der kalte Wind am Auto vorbeirauscht.
Dazu gesellen sich Montagen, die das Leiden aller Charaktere zeigen, ohne dabei ein Wort zu verlieren und kleine Momente, wie ein Schüler und eine Schülerin, die sich während einer Geiselnahme langsam an die Hände nehmen. Das trägt alles zur kontinuierlichen Spannung bei.
„Polizeiruf 110“: „Sie sind unter uns“ gelingt etwas, woran fast alle scheitern
Dass der Fall bereits mehr als ernst genommen wird, wurde ja bereits angemerkt. Dies ist normalerweise einer der großen Hürden, an den viele Fälle scheitern. Woran der „Tatort“ und „Polizeiruf“ aber auch häufig scheitern, ist die authentische Darstellung von Jugendlichen. Auch hier zeigt sich „Sie sind unter uns“ von seiner besten Seite, denn die Darstellung aller Schüler und Schülerinnen ist mehr als authentisch. Das fängt nicht nur beim Schauspiel an, sondern bezieht sich auch darauf, wie sie ausgestattet wurden. Jeremy und all seine Mitschüler und Mitschülerinnen könnten dir und mir nicht nur in Magdeburg, sondern überall in Deutschland so über den Weg laufen.
„Polizeiruf 110“: Wie Schuppen von den Augen
Und als wäre all das Lob nicht genug, gelingt es „Sie sind unter uns“ die Zusehenden an der Nase herumzuführen. Ohne zu viel zu verraten, kann man sagen, dass der „Polizeiruf“ einem Auflösungen bietet, die am Anfang absurd wirken, aber dann spätestens im Epilog Sinn ergeben. Es ist selten, dass man einen ARD-Krimi schaut und sich danach schon etwas dämlich vorkommt, dass man tatsächlich das geglaubt hat, was einem serviert wurde.
„Polizeiruf 110“: Geschmacklos oder wichtig?
Auch wenn Amokläufe nicht sehr häufig in deutschen Schulen stattfinden, ist es trotzdem wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, da so etwas jederzeit passieren könnte. Dementsprechend ist es ebenso wichtig im Auge zu behalten, dass die Beweggründe der Amokläufer und Amokläuferinnen heutzutage weitaus andere sein könnten, als noch vor vielen Jahren. Da ist es umso beeindruckender, dass es sich ein „Polizeiruf“ auf die Fahne schreibt, Aufklärung bezüglich dieser Themen zu betreiben. Dabei darf man nie vergessen, dass „Sie sind unter uns“ es stets schafft spannend, aber nie effekthascherisch zu sein.
Man kann über „Sie sind unter uns“ sagen, dass man es hier mit einem wichtigen Fall zu tun hat, der perfekt in das Fahrwasser passt, das gerade von Serien wie „Adolescence“ aufgestoßen wurden. Ein „Polizeiruf“ wie kein anderer – authentisch, immersiv, schockierend und nie gewaltverherrlichend.